Ein weiterer Versuch
Was die Nachdenkseiten und ihren Herausgeber Albrecht Müller angeht, lässt Moritz Klingmann nicht locker. Ein weiteres Mal versucht er in Form eines an die Nachdenkseiten gerichteten Leserbriefes (leicht gekürzte Fassung) Albrecht Müller von der Wichtigkeit eines eingeführten bundesweiten Volksentscheides zu überzeugen. Hierbei bezieht er sich auf einen von Albrecht Müller verfassten Artikel vom 28.10.2019 siehe: https://www.nachdenkseiten.de/?p=55927
Sehr geehrter Herr Müller,
Ihr Beitrag im Deutschlandfunk hat mich berührt. Ich habe das politische Interesse und Engagement von meinen Eltern geerbt, aber in einer Partei mitzuwirken und mich dort gar auf den langen Marsch zu begeben, habe ich nie erwogen. Stattdessen habe ich mich lange Jahre mit dem Verein Mehr Demokratie und später ohne Verein dafür engagiert, mehr Demokratie zu wagen. Ich weiß, dass Sie dem Anliegen, direkte Bürgerbeteiligung auf allen politischen Ebenen, auch auf der Bundesebene zu ermöglichen, kritisch gegenüberstehen. Auch Ihr Beitrag im DLF bezieht sich nur auf die Mittel der repräsentativen Demokratie. Wie würde sich Willy Brandt heute dazu stellen? Würde er strategisch nach-denken?
Der Zustand, den Sie auch in Ihrem Beitrag beschreiben, lässt sich als Degenerationsprozess verstehen. Sie kennen die Symptome: Lobbyismus als entscheidende Kraft auf allen politischen Ebenen, Drehtüreffekt der politischen Mandatsträge. Soziale Proteste und die Proteste der Jugend wie zuletzt gegen die Umweltzerstörung werden im politischen Betrieb durch medial vorgespiegelte politische Betriebsamkeit, die jede grundsätzliche Konzession von vornherein ausschließt abgewimmelt und im Zweifel bekämpft. Die damit einhergehende Abwendung von der Politik lässt sich offensichtlich nicht mit Appellen kurieren, ebenso wenig wie die Politik sich durch Ihre Appelle in irgendeiner Weise beeinflussen lässt. Man kann den Eindruck gewinnen. Alles wird eher geschehen, eher wird man sehenden Auges die Gesellschaft noch viel weiter in die Polarisierung treiben lassen (siehe GB, siehe USA, ...), als dass eine Bereitschaft sich zeigen und an Boden gewinnen würde in den demokratischen Parteien, die Bedürfnisse und Ängste der Bürgerinnen und Bürger tatsächlich ernst zu nehmen und entsprechende Maßnahmen, die auf fundamental veränderte politische Weichenstellungen herauslaufen würden, ins Auge zu fassen.
Aber warum ist das so? Betrachten wir die äußeren wirtschaftlich-politisch-gesellschaftlichen Gegebenheiten, so wird sehr schnell deutlich, dass wir uns in einem grundsätzlicher Wandel befinden. Wenn wir nur zwei wesentliche Punkte herausgreifen, so sind es in der Wirtschaft die mit Digitalisierung und KI einhergehende Rationalisierung in noch nicht gekanntem Ausmaß, alle Bereiche des Lebens werden heute industriellen Verwertungsprozessen unterworfen. Der spiegelbildlich dazu ablaufende Prozess ist die fortlaufende Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen. Beides stellt die überkommenen Lebensbedingungen der Menschen in Frage. (Und das einzige Mittel, sich dagegen zu wappnen ist nach dem Glaubensbekenntnis des Kapitalismus ein solide gegründetes Vermögen.) Ich will Sie nicht langweilen. Zeit ist Geld. Wir können die weltweiten Ausbeutungsverhältnisse als bekannt voraus setzen. Was uns nur in der Vergangenheit vielleicht noch nicht bewusst war, ist, dass es eine gibt, die von der unsichtbaren Hand tatsächlich vom Prinzip her nicht bedacht wird und das ist eben die Natur und deren Einknicken fällt wiederum auf uns alle zurück und die Folgen dieses Zurückfallens beginnen uns heute aus dem Süden und dem Osten zu besuchen und sich bei uns niederzulassen, was den notorischen Hetzern bei uns wiederum Brennstoff liefert für ihre Hasskampagnen.
Alle wissen: So kann es nicht weitergehen, und doch geht es immer weiter in der eingeschlagenen Richtung. Soviel nur und so unvollständig zur Zustandsbeschreibung, aber das ist natürlich noch keine Antwort auf die gestellte Frage nach dem Warum.
Es ist ja nicht so, dass es in den Nachkriegsjahren noch keinen Egoismus gegeben hätte oder etwa keine Skrupellosigkeit. Es gab sie in reichem Maße, aber es gab auch noch, quasi als Relikt früherer Zeiten, Überzeugungen, Verwurzelungen, Gewissheiten. Der Materialismus und der damit einhergehende verzweifelte Egoismus waren noch nicht so weit durchgedrungen wie heute. Womit begründet die Jugend denn ihr Engagement, ihre Proteste bei den Fridays for Future? Damit, dass sie diese ihre Zukunft noch erleben werden, dass sie in dieser ruinierten Welt leben müssen. Das Argument zielt nicht etwa auf etwas grundsätzlich Bewahrenswertes, so wie sich ein Bertolt Brecht noch des Gesangs der Vögel nach ihm freuen konnte. Ich will das damit nicht diskreditieren, ganz im Gegenteil. Die Jugendlichen, meine Kinder, haben meinen vollen Respekt. Und doch sind sie Teil eines Prozesses, der eigentlich ein geistiger Emanzipationsprozess ist, der aber auch mit einem wachsenden Egoismus als seiner Schattenseite einhergeht. Auch ich will nicht als Gruppenwesen handeln und doch will ich mich auch für etwas engagieren können, was mir anscheinend gar nicht mehr zugute kommt.
Interessanterweise gibt es Bewegungen, die unterschwellig verlaufen und sich dadurch der Wahrnehmung entziehen. In Deutschland wird das Regieren seit Jahren schwieriger. Erst war es eine große Koalition als Dauerzustand, jetzt ist die große nur noch eine kleine und mehr Parteien müssen dazu kommen. Es entwickelt sich eine Art von „Konkordanzdemokratie“ und die CDU diskutiert ihr Verhältnis zur LINKEN, doch bringt uns das der Lösung der drängendsten Probleme in keiner Weise näher. Es ist nur eine Abwehrschlacht gegen einen zwar noch nicht heraufziehenden Faschismus aber gegen gesellschaftlich-politisch manifeste autoritäre Tendenzen und anschwellende autoritär gesinnte Parteien und wer weiß, wem sie den Weg bereiten. Der Widerstand gegen Rechtsaußen bietet das neue Argument für die politische Klasse, um in der gewohnten Weise, aber in neuen Kombinationen ihr Spiel fortsetzen zu können. Worauf sie auch bei stärkstem Nachdenken nicht kommen, ist dass einer sich wandelnden Gesellschaft schon seit Langem eine sich wandelnde Demokratie entsprechen würde. Dass die Politiker heute anscheinend nicht mehr so guten Willens sind wie Willy ist eben kein Zufall, es ist ein grundsätzlicher mentaler Wandel zu beobachten. Unverrückbare Überzeugungen gibt es keine mehr. Die evangelische Kirche diskutiert die Abschaffung des Sonntagsgottesdienstes. Um in einer solchen Zeit eine zivile Demokratie bewahren oder neu aufbauen zu können, braucht es (schon lange) eine neue Verteilung von Verantwortung. Und damit bin ich wieder beim bundesweiten Volksentscheid. Ich bin bei dem Gedanken wieder angelangt, den Sie so gekonnt wie alle anderen Anhänger des „reinen“ repräsentativ-parlamentarischen Systems vermeiden.
Warum schreibe ich Ihnen das. Nun ja. Ich bewundere Ihre Arbeit und ich habe die Hoffnung immer noch nicht ganz aufgegeben. In dieser Hinsicht bin ich Idealist.
Mit herzlichen Grüßen
Moritz Klingmann